Erfindergeist verhalf zur Villa

Wesselmann-Bohrer war ein Geraer Produkt

Gera. (tlz 5. Juli 1997) Es ist ein sonniger Nachmittag im Jahre 1919. An der Endstelle Südfriedhof steigt ein kleiner Junge aus der Straßenbahn. In der Hand hält er einen Milchkrug. Ein weiter Weg liegt noch vor ihm. Er will zu einer hübschen kleinen Villa inmitten grüner Wiesen und Felder. Es ist das Haus in der heutigen Wiesestraße 226. Dort wohnt die Familie seines Großvaters. Auf dem Grundstück, zu dem auch ein Stück Feld gehört, hält der Großvater für die entbehrungsreiche Nachkriegszeit auch sehr nützliche Tiere: Ziegen. Ziegenmilch soll der sechsjährige Franz Oertel holen. Mit seinen Eltern wohnt er mitten in der Stadt Gera. Ein weiter Weg also. Manchmal läuft der kleine Franz jedoch den ganzen Weg. Vom so eingesparten Fahrgeld für die Straßenbahn kauft er sich lieber ein paar Süßigkeiten.
Sein Großvater, denn er besucht, heißt Martin Steudner; er ist Technischer Direktor der Wesselmann-Bohrer Co. AG. Die hatte ihren Sitz in der Langen Straße in Gera. Daß die hübsche Villa in der heutigen Wiesestraße 226 gebaut werden konnte, daran ist der Erfindergeist des Martin Steudner „schuld". In Debschwitz betrieb er zunächst eine Schlosserei. Dann soll er eine Erfindung gemacht haben. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dachte sich Martin Steudner einen Metallbohrer aus, den sogenannten Wesselmann-Bohrer. Dieser Bohrer baute auf dem damals allgemein gebräuchlichen amerikanischen Spiral- oder Morsebohrer auf. Mit dem neuen Bohrer ließen sich Werkstükke schneller und genauer bearbeiten. Nach diesem Prinzip funktionieren auch heute noch die meisten Metall-Bohrer. Er meldete seine Erfindung zum Patent an. In der Familie wird erzählt, daß sich Martin Steudner die Rechte am Patent auszahlen ließ. Von dem Geld kaufte er das Grundstück außerhalb Geras und ließ sich dort im Jahre 1898 von Fritz Köberlein eine Villa bauen.

Martin Steudner gehörte neben Georg Hirsch und anderen zu den Mitbegründern der Wesselmann-Bohrer AG. Aus den Gründungsunterlagen geht hervor, daß seine Erfindung die Produktionsgrundlage bildete für die neue Fabrik. Das Unternehmen wurde 1895 als Aktiengesellschaft gegründet. Hauptaktionär war der Geraer Industrielle Georg Hirsch. Er hatte, gemeinsam mit weiteren Partnern, die Rechte der in Chemnitz ansässigen Wesselmann Bohrer Compagnie Schmidt & Böcker übernommen. Haupteigentümer waren ein in Göttingen lebender Bruno Wesselmann und Theodor Wesselmann aus Preußisch Stargard.
Die Chemnitzer Firma besaß die Rechte an der Erfindung des nach ihr benannten Bohrers. Diese Rechte gab sie an die Geraer AG ab unter der Bedingung, daß sie an der Erstverwertung des Bohrers und des Patentes zu 50 Prozent beteiligt ist. Der Gründerbericht der AG und ein Gutachten eines Prof.. Ludewig von der Königlich-Technischen Hochschule zu Berlin heben die Vorzüge des neuen Bohrers hervor: Die wesentlich verbesserten Schneidkanten des neuen Bohrers würden es erstmals ermöglichen, Vorbohren und Schneidbohren von Eisen, anderen Metallen und Holz in einem Arbeitsgang durchzuführen. Der bisher verwendete amerikanische Morsebohrer ermögliche Bohrlöcher bis 50 Millimeter, der neue hingegen könne ohne vorzubohren Löcher von 150 Millimeter und wahrscheinlich auch mehr erreichen.
Tests zum neuen Bohrer für die Patentanmeldung waren übrigens im Unternehmen von Martin Steudner durchgeführt worden. Der Bohrer sei überaus vielseitig einsetzbar, damit könnten sehr präzise und ohne großen Aufwand „Löcher zu den Feuerrohren in den Kesselstirnwänden, Löcher in Panzerplatten, Cylinderausbohrungen von hydraulischen Pumpen, kleinere Motoren (Locomobile, Locomotiven, Gas- und Petroleummotoren etc.) in einem einzigen Arbeitsvorgange" gebohrt werden.

Erfinder-Tochter heiratete Sattler

In seiner Villa in der Wiesestraße wohnte Martin Steudner gemeinsam mit seiner Frau und seinen sieben Kindern bis zu seinem Tode 1921 oder 22. (FTF: Martin Steudner starb am 8. März 1921. In der Geraer Regionalzeitung erschienene acht Nachrufanzeigen) Ende der 20er Jahre verkaufte die Familie die Villa, um den Kindern in wirtschaftlich schweren Zeiten ein Erbe auszahlen zu können. Eine der fünf Steudner-Töchter hieß Hertha.
Sie heiratete im Jahre 1912 einen Albert Oertel. Und mit dieser Heirat verlassen wir zwar die Villa in der Wiesestraße, wären aber bei einer anderen Familie, die alteingesessenen Geraern noch in guter Erinnerung sein dürfte - der Familie Oertel.

Die Oertels sind vermutlich um 1879 nach Gera gekommen. (FTF: Louis Franz Oertel heiratete am 25.01.1880 in Niederalbertsdorf bei Werdau die Selma Thomas aus Langenbernsdorf und muß danach nach Gera gekommen sein.) In dem Jahr gründete der Sattlermeister Franz (FTF: Louis Franz) Oertel in der damaligen Schleizer Straße 19 in Gera eine kleine Sattlerei. Er stammte aus einer alten Sattlerfamilie in Zwickau. 1884 zog (FTF: Louis) Franz Oertel in ein neues Haus in der Schmelzhüttenstraße 15. Hier hatte er größere Werkstatträume, außerdem auch ein Ladengeschäft. Die Lage des Hauses war ausgesprochen gut. Zahlreiche Firmen siedelten sich in diesem neuen Industrieviertel an. Der Bau des Sächsischen Bahnhofes 1893 - später Südbahnhof genannt - belebte das Gebiet außerordentlich. Der rote Backsteinbau war der erste Bahnhof der Königlich-Sächsischen Eisenbahn in Gera. Besonders als Güterbahnhof wurde er sehr wichtig für die Stadt. Auch die für die Industrie nötige Kohle wurde vor allem über diesen Bahnhof angeliefert.
In einer solchen aufblühenden Gegend ließ es sich einerseits mit Lederwaren wie Koffern und Taschen gut handeln. Andererseits wurde zu der Zeit viel gebaut in Gera, für das Sattlerhandwerk gab es viele Aufträge. 1899 trat (der Sohn) Albert Oertel als Mitinhaber ins Geschäft ein. Er hatte bei seinem Vater gelernt und war anschließend sieben Jahre lang auf Wanderschaft gegangen. In den besten Sattler- und Lederwarenfirmen Deutschlands hatte er in der Zeit gearbeitet. 1911 vergrößerte Albert Oertel das väterliche Unternehmen. Er kaufte die am Roßplatz ansässige Sattlerei samt dem dazugehörigen Lederwarengeschäft von C. R. Hädrich. Die beiden Geschäfte und Werkstätten wurden vereinigt und die Firma unter dem Namen Franz Oertel & Sohn weitergeführt. Doch so wie die Sattlerei Oertel entwickelte sich auch die Stadt Gera. Mehr und mehr waren Sorge und Heinrichstraße zu Geschäftszentren geworden. Das veranlaßte Albert Oertel, Grundstücke in der Heinrichstraße 10 und am Walkmühlenplatz 3 und 4 zu erwerben. Die bereits renommierte Sattlerei wurde weiter ausgebaut. Geschäft und Werkstatt befanden sich etwa dort, wo viele Jahre später einmal Anlagen des Interhotels gebaut werden sollten - zwischen dem Brunnen und dem Hotelrestaurant. (FTF: heute befinden sich hier die Geraer Arcaden)
Firmengründer Franz (FTF: Louis Franz Oertel starb am 23.April 1925 in Gera) Oertel sen. starb im Jahre 1925. Albert Oertel führte das Geschäft zunächst allein weiter. Sein 1913 geborener Sohn, der nach seinem Großvater Franz hieß, war ebenfalls für das Familiengeschäft vorgesehen. Eben jener, der als Kind beim Großvater Steudner auf dessen Villengrundstück die Ziegenmilch holte.

Beim Vater in die Lehre gegangen

Bei seinem Vater Albert Oertel ging er in die Sattlerlehre. Danach besuchte er die Meisterschule für das Sattler- und Tapeziererhandwerk, legte dort die Meisterprüfung ab. Inzwischen hatte sein Vater im Jahre 1926 den Laden in der Heinrichstraße umgebaut. Er machte es zu einem führenden Spezialgeschäft der Lederwarenbranche Thüringens. Mit viel Fleiß und durch persönliche Einschränkungen gelang es ihm, die Firma über die schweren Jahre der Wirtschaftskrise zu bringen. Nach dem Meisterabschluß war Franz Oertel jun. ins Familiengeschäft eingetreten. Während des Krieges allerdings wurde er für drei Jahre zur Armee eingezogen.
Werner Oertel, der zweite Sohn, fiel im Zweiten Weltkrieg. Kurz vor Kriegsende dann erlebte die Familie einen weiteren schweren Schlag: Beim amerikanischen Bombenangriff am 7. April 1945 auf Gera wurden das Geschäft in der Heinrichstraße und der Werkstattbetrieb total zerstört. Dabei kam auch Albert Oertel ums Leben.
Nach Kriegsende bemühte sich Franz Oertel um die Wiedereröffnung des angesehenen Lederwarengeschäftes. Geeignete Geschäftsräume fanden sich gegenüber der Hauptpost in der Straße des 7. Oktober 31, der heutigen Schloßstraße. Bis 1966 blieb die Firma in den Räumen. Dann mußte erneut umgezogen werden. Der Flachbau fiel dem Umbau in der Innenstadt zum Opfer. Franz und Hilde Oertel richteten ihr Geschäft also noch einmal neu ein, diesmal in der Humboldtstraße 4. 1980 dann gingen die Oertels in den Ruhestand, das Geschäft wurde aufgegeben.

ZUM THEMA

Voller Stolz erzählt ein Nachkomme von den Leistungen seines Urgroßvaters Martin Steudner. Vermutlich in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts soll der Schlossermeister eine heute noch genutzte Erfindung gemacht haben: Er entwickelte einen Bohrer, die Rechte daran verkaufte er an die Firma Wesselmann. Fürs Geld aus seiner Erfindung ließ er eine Villa in der Wiesestraße bauen. Der Urenkel heißt Oertel. Seine Familie hatte mit der Steudner-Villa kaum noch zu tun. Aber sie ist in Gera gut bekannt: Bis 1980 betrieben die Oertels in Gera eine Sattlerei und ein Lederwarengeschäft.

Franz Oertel & Söhne war über dem Geschäft in der Heinrichstr. 10 zu lesen.
Beim Bombenangriff am 7. April 1945 wurde das Haus zerstört. Albert Oertel kam dabei ums Leben.

Zeitungsartikelserie "Villen in Gera" in der Thüringer Landeszeitung, Karin Lange, Gera 5.7.1997

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Autor:
Franz-Thomas Fischer
Düsseldorf

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